Der Einstieg in den Ausstieg
Wie geht das Leben nach dem Shutdown weiter? Wann ist es soweit?
Und was bleibt besonders wichtig im Kampf gegen das Coronavirus?
Forscher haben dazu gestern mehrere Empfehlungen vorgelegt.
Für Bund und Länder lesen sie sich wie ein Fahrplan. Gut so.
ES IST DIE STUNDE der wissenschaftlichen Politikberatung, und wer behauptet, die Republik werde nur noch von ein paar Virologen regiert, der hat Wesentliches übersehen. Gleich drei Gruppen renommierter Forscher haben gestern Empfehlungen vorgelegt, wie Bund und Länder in den kommenden Wochen den Kampf gegen das Coronavirus fortsetzen sollten.
Zwei davon konzentrieren sich auf die zunehmend drängende Frage, wie die Infektionsbekämpfung mit der schrittweisen Rückkehr zu einem halbwegs normalen öffentlichen Leben einhergehen könnte. Ja, auch Charité-Virologe Christian Drosten hat an einer der Empfehlungen mitgearbeitet, aber als einer unter vielen. Und zu diesen vielen gehörten neben Medizinern unter anderem auch Informatiker, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler.
Genau diese Perspektivenvielfalt macht das, was die Forscher gestern empfohlen haben, so wertvoll. Sie führt nämlich nicht, wie man denken könnte, zu einem Chaos von je nach Disziplin widersprüchlichen Aussagen, nein: In wesentlichen Fragen sind sich die Forscher disziplinübergreifend einig, auch die drei vorgelegten Empfehlungen insgesamt ergänzen sich, ergeben ein stimmiges Gesamtbild.
Die Wissenschaft entscheidet nicht, das tut die Politik. Aber wenn die Wissenschaft ein so einiges Bild abgibt; wenn sie der Politik so differenzierte und doch eindeutige Ratschläge gibt, dann tun Bund und Länder gut daran, ihnen auch zu folgen. Tatsächlich stehen die Chancen mit einer Physikerin als Bundeskanzlerin gut, dass sie es tun wird, wenn Angela Merkel nach Ostern mit den Ministerpräsidenten zusammenkommt. Und wenn die Infektionskurve sich, was sich in den vergangenen Tagen angedeutet hat, tatsächlich weiter abflachen sollte.
Was aber steht nun in den drei Empfehlungen, und von wem kommen sie?
Die zweifelsohne wichtigste hat erneut die Nationalakademie Leopoldina vorlegt. Diese hatte schon vor zwei Wochen, als Bund und Länder davor standen, den Lockdown zu beschließen, die Richtung in großer Klarheit vorgegeben. Denn bereits zu dem Zeitpunkt hatte die Adhoc-Arbeitsgruppe, zu der unter anderem Christian Drosten, DFG-Präsidentin und Molekularbiologin Katja Becker, Leopoldina-Präsident Gerald Haug und der Kognitionswissenschaftler Ralph Hertwig gehören, neben einem "ca. drei Wochen" langen "temporären Shutdown" der Politik dringend empfohlen, in der Zeit der Stilllegung "Vorbereitungen für das kontrollierte und selektive Hochfahren des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft zu treffen".
Konsequenterweise legt die Leopoldina-Arbeitsgruppe nun inmitten des Shutdowns ihre Vorschläge vor, welche "gesundheitsrelevanten Maßnahmen" diese schrittweise Normalisierung nicht nur begleiten, sondern sie sogar erst ermöglichen können. Drei davon, sagt die Leopoldina, seien besonders wichtig.
Erstens: die Nutzung von Mund-Nasen-Schutz, wie sie zum Beispiel in Österreich bereits verpflichtend ist. Eine solche Pflicht hatte die deutsche Politik zuletzt jedoch abgelehnt. Dabei reduziere eine solche Maßnahme die Übertragung von Viren vor allem in Form von Tröpfcheninfektion, betonen die Forscher und sagen: Die schrittweise Lockerung des Shutdown solle daher "mit dem flächendeckenden Tragen von Mund-Nasen-Schutz einhergehen", und zwar im gesamten öffentlichen Raum, in Betrieben und Bildungseinrichtungen und im öffentlichen Personenverkehr. Dafür müsse es natürlich erst einmal genug Masken geben, räumen die Forscher ein. Aber: "Der Mangel sollte bereits jetzt durch selbst hergestellten Mund-Nasen-Schutz, Schals und Tücher überbrückt werden".
Zweitens: Die Nutzung mobiler Daten, die ortsunabhängig den räumlichen und zeitlichen Kontakt von Personen abbildeten, sei "unentbehrlich", weil sie für die Identifizierung von Infizierten und ihren Kontakten hilfreich sei. "Daher sollten schnellstmöglich digitale Werkzeuge wie eine entsprechende App für Mobiltelefone verfügbar gemacht werden" - allerdings zur freiwilligen Nutzung und unter Anonymisierung der Daten.
Drittens: Noch mehr Menschen müssten täglich auf eine Corona-Infektion getestet werden, vor allem durch den Ausbau verlässlicher Schnelltests. Dadurch könnten die Ausbreitungsherde besser eingegrenzt und Quarantänemaßnahmen "passgenau" verhängt werden.
Neuinfektionen bei konsequenter Anwendung der Maßnahmen bis Ende Mai nahe null?
Bei einer konsequenten Anwendung dieser drei Maßnahmen könne die Zahl der Neuinfektionen trotz Lockerung des Shutdowns bis spätestens Ende Mai auf nahezu Null fallen, haben die Forscher berechnet und warnen zugleich: Kehrt das öffentliche Leben einfach so zur Normalität zurück, würde auch die Zahl der Corona-Fälle in kürzester Zeit wieder sprunghaft ansteigen, die Wirkung des Shutdowns wäre verpufft. Und sie räumen ein: Die Null-Projektion sei ein "idealisierter Modellverlauf", selbst in Südkorea ließen sich Neuinfektionen nicht vollständig vermeiden.
Schließlich wiederholen die Forscher eine Forderung, die inzwischen so oft gehört worden ist, dass die Politik sich immer stärker rechtfertigen muss, warum sie nicht schon längst größere Ressourcen darauf verwendet: Eine "repräsentative und randomisierte Testung der Bevölkerung hinsichtlich akuter Infektionen und Immunität sei dringend notwendig": also regelmäßige und flächendeckende Stichproben. Erst dadurch, sagen die Forscher, werde es möglich, verlässlich die Wirkung der verschiedenen Eindämmungsmaßnahmen zu berechnen – und entsprechend neue, auch regional angepasste Strategien im Kampf gegen das Virus nachzuschieben.
Eine Mund-Nasen-Schutz-Pflicht, die konsequente Verwendung mobiler Apps, viele hunderttausend Tests pro Tag, endlich flächendeckende repräsentative Stichproben – und parallel das allmähliche Hochfahren des gesellschaftlichen Lebens: Die Empfehlungen der Leopoldina klingen wie die Entscheidungsvorlage für das Treffen der Regierungschefs von Bund und Ländern am 14. April. Die Chancen stehen, siehe oben, erneut gut, dass die Politik folgen wird.
Ein Stufenplan für die Shutdown-Lockerung
Um dann genau was wie hochzufahren? Das ist die Stelle, an der die Empfehlungen einer zweiten interdisziplinären Expertengruppe anschließen, koordiniert vom Chef des Münchner ifo-Instituts, Clemens Füst, und von Martin Lohse, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des Berliner Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft. Auch sie plädiert für eine Maskenpflicht, für die Verwendung von Handy-Apps und den Ausbau der Tests. Und sie benennen Kriterien, in welcher Reihenfolge welche Teile des öffentlichen Lebens wieder hochgefahren könnte: die Auswirkungen aufs Ansteckungsrisiko, die Bedeutung des jeweiligen Bereiches für Wirtschaft und Gesellschaft und die Praktikabilität weiterer Schutzmaßnahmen trotz Öffnung. In einem "Stufenplan" empfehlen die Forscher, abhängig von der Entwicklung der Infektionszahlen
- relativ früh wieder Treffen in kleineren Gruppen zu erlauben, solange "angemessene Schutzmaßnahmen", vor allem das Tragen von Mund-Nasen-Schutz, eingehalten würde. Besonders strikte Maßnahmen sollten jedoch weiter beim Treffen von Risikogruppen gelten.
- Die Aufnahme der Produktion in Industriebetrieben sollte bevorzugt in Unternehmen erfolgen, "deren Ausfall nicht kurzfristig überbrückt werden kann", und in solchen, wo sich Abstandsgebote und Hygienestandards gut einhalten lassen.
- Zu den Bereichen, die den Forschern zufolge als Teil möglicher erster Lockerungsschritte wieder geöffnet werden könnten, gehören auch Kitas, Schulen und Universitäten, da junge Menschen selten schwer kann Covid-19 erkrankten, zugleich aber die gesellschaftlichen Kosten der Schließung besonders hoch seien. Die Bildungsungleichheit wachse durch Homeschooling, und die Eltern würden in ihrer beruflichen Tätigkeit behindert. Die Forscher schränken aber ein: Individuell sollte geklärt werden, wo sich Risikopersonen befinden und welche entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen dadurch nötig würden. Parallel sollten Schulen und Hochschulen den Ausbau von Online-Lernformaten weiter vorantreiben, "um auch im Falle eines Wiederaufflackerns der Pandemie sinnvoll agieren zu können".
- Bei Kultur, Sport und Veranstaltungen sind die Forscher zurückhaltender: Hier sei ein entscheidender Parameter die Gruppengröße. Anfangs sollten nur kleinere Versammlungen und keine Personenballungen zugelassen werden.
- Besonders vorsichtig sind die Forscher bei der Gastronomie: Dieser Bereich sei "auf Grund oft schwer durchzusetzender Abstandregeln und der zahlreichen, wechselnden Kundschaft besonders kritisch". Eine Öffnung könne daher nur "sehr vorsichtig und kontrolliert" erfolgen – was auch immer das heißen mag. Im Ergebnis fordern die Forscher, Veranstaltungen mit vielen Zuschauern, Diskotheken und Clubs in jedem Fall vorerst geschlossen zu halten. Und grundsätzlich sollten die Lockerungsmaßnahmen von der jeweiligen Infektionslage und dem Angebot in der Krankenversorgung in einzelnen Regionen abhängig gemacht werden: also nicht eine Lösung für alle.
Mit einem Stufenplan könnte die Politik den Menschen eine Perspektive
geben
Womit für das Treffen der Regierungschefs am 14. April eine weitere Aufgabe gegeben ist: Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten sollten sich auf einen solchen Stufenplan einigen und ihn im Detail kommunizieren – mit allen Wenns und Abers und Konditionen, je nachdem, wie sich die Infektionslage verändert. Doch allein das Vorliegen eines solchen Stufenplanes könnte psychologisch eine große Rolle spielen, weil sie den von Ausgangsbeschränkungen betroffenen Menschen eine Perspektive geben würde.
Zu Wort gemeldet hat sich schließlich gestern auch die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), also der Rat der Wissenschaftweisen. Ihre Empfehlungen ergänzen ebenfalls klar die Ratschläge von Leopoldina und ifo-Arbeitsgruppe. Die Corona-relevante Forschung müsse von komplizierten Antragsverfahren für Projekte befreit werden. Fördermittel müssten schnell und unbürokratisch zur Verfügung stehen. Die EFI-Experten mahnen zudem, die Rettungspaket der Bundesregierung auch dafür einzusetzen, dass das Wissenschaftssystem arbeitsfähig bleibe. So fordern sie Puffer für befristete Arbeitsverträge, Stipendien- und Projektlaufzeiten. "Flexible Regelungen, schreibt die EFI, "sind dabei nicht nur ein Zeichen der Fairness gegenüber den betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sie sind auch notwendig, um das Funktionieren unseres Wissenschaftssystems in Krisenzeiten weiterhin zu gewährleisten und bis zur Erholungsphase fit zu halten".
In der Gesamtschau der Empfehlungen stehen die Zeichen also auf eine allmähliche Lockerung der Maßnahmen. Vor zwölf Tagen schrieb ich: "Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der nächste Beweis politischen Muts in absehbarer Zeit darin bestehen wird, die weitgehende Stilllegung von Wirtschaft und öffentlichem Leben wieder stückweise aufzuheben – auch wenn die Pandemie dann noch nicht vorüber sein wird."
Genau diesen Mut werden Bund und Länder bald beweisen müssen – ohne den unkoordinierten Wettlauf um die strengsten Maßnahmen, den Deutschland vor zwei Wochen erleben musste, dann in sein ebenso schädliches Gegenteil zu verkehren. Das föderale Deutschland muss zeigen, dass es sich im Gleichschritt bewegen kann. Was laut der Wissenschaftler nicht heißt, dass überall das gleiche passieren muss. Doch machen die Empfehlungen klar: Was wann wo nötig ist und bleibt, darf nicht vom Profilierungsdrang einzelner Ministerpräsidenten abhängen, sondern von einer gemeinsamen Kriterien folgenden Einschätzung der regionalen Corona-Lage.
Kommentare
#1 - Hochschule können sicherlich als erste wieder öffnen. Im…
#2 - Eine klare Perspektive aufzuzeigen halte ich ebenfalls für…
Mich würde bei all diesen Empfehlungen interessieren, ob es irgendwelche zentralen Formen der Bürgerbeteiligung bei der Ausarbeitung der möglichen Regeln gibt? Sehr viele Menschen machen sich ja über Lösungen für verschiedene Bereiche Gedanken (siehe anderer Kommentar) und haben zugleich Anliegen, die in der Lösungsentwicklung berücksichtigt werden sollten und können. Zwei Beispiele: a) Pauschal das Sitzen auf Parkbänken zu untersagen ist sehr nachteilig für Menschen, die schlecht zu Fuß sind, aber wie die sportlichen Mitbürger*innen auch mal an die frische Luft wollen. Das sollte somit nicht komplett eingeschränkt werden. b) Maskenschutz in der Öffentlichkeit sollte auf die Bereiche begrenzt werden, wo konkret ein Übertragungsrisiko vorhanden ist (z. B. in Geschäften). Es gibt Menschen, für die nonverbale Kommunikation über Mimik sehr wichtig ist und für die ein Ausgang mit permanentem Mund-Nasen-Schutz sehr einschränkend wäre.
Eine stufenweise Rückkehr zu einem öffentlichen Leben hat sicher einige Herausforderungen. So dürfte die Fülle der Regeln, wenn sie denn sinnvollerweise recht differenziert ausfallen, schwer zu kommunizieren sein. Erschwerend kommt der Wechsel der Regeln in Abhängigkeit der jeweils aktuellen Pandemie-Anforderungen und durch Anpassung an regionale Unterschiede hinzu. Das erfordert ein extrem gutes Kommunikationskonzept!
Ich denke die Mehrheit wird einem entsprechenden Regelwerk aber folgen, wenn dafür wieder mehr Freiheiten möglich sind.
#3 - Es wäre schön wenn auch mal an die Eltern gedacht werden…
#4 - Ich gehe damit einig, dass Hochschulen früh wieder…
#5 - Ich finde den Vorschlag interessant, die Hochschulen…
#6 - Was ist mit den Erziehern und Erzieherinnen im…
#7 - Man merkt an den Vorschlägen wie es darum geht das Risiko…
#8 - Ein Stufenplan scheint mir sehr sinnvoll und stößt bei…
#9 - Ich bitte Sie, die Schulen bis zu den Sommerferien…
Bleiben Sie gesund und treffen Sie die richtigen Entscheidungen, denn nur so können wir bald alle wieder ein weitesgehend normales Leben führen.
Mit freundlichen Grüßen
Manuel Meyer
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