Obergrenze für die Aufmerksamkeitsökonomie
Bundesbildungsministerin Karin Prien spricht bei Welt TV über eine mögliche "Migrantenobergrenze" an Schulen – und entfachte eine hitzige Debatte. Was bleibt, ist viel Aufregung und wenig öffentliches Interesse an den eigentlichen Problemen der Bildungspolitik.
"Politikergrillen": Bildungsministerin Karin Prien im Gespräch mit WELT-Chefredakteur Jan Philipp Burgard (Screenshot von Welt TV).
WISSEN SIE, was das wirklich Frustrierende an der Debatte über "Migrantenquoten" an Deutschlands Grundschulen ist? Dass sie viel sagt über die Dysfunktionalitäten unserer Mediengesellschaft und über die Aufregungsreflexe von links und rechts. Am meisten aber über das Desinteresse weiter Teile der Öffentlichkeit an der tatsächlichen bildungspolitischen Misere.
Alles ging los mit einem Interview der neuen Bundesbildungsministerin in der Sendung "Politikergrillen" bei Welt TV: Chefredakteur Jan Philipp Burgard und Karin Prien, beide mit Kochschürze ausgestattet, am Grill. Vielleicht muss man sich als stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende solch ein Format antun, vielleicht hofft man, dadurch Leute zu erreichen, die man sonst nicht erreicht.
Auf jeden Fall kam sehr schnell, was kommen musste. Das Thema Migration und Begrenzung. Passend gemacht für den Schulkontext.
Mit Verweis auf Dänemark, wo es jetzt eine "Obergrenze, eine Quote für Migrantenkinder in bestimmten Stadtteilen" gebe, fragt Burgard: "Wäre das in Deutschland auch ein Modell für Schulen?"
Prien will das Thema offenbar ablenken, was ihr aber nicht richtig gelingt. Ihre Antwort: "Das ist ein denkbares Modell. Es gibt auch viele andere Modelle, von denen wir auch wissen, dass sie gelingen. Und für mich ist entscheidend der Punkt: Was machen wir eigentlich im Alter zwischen drei und sechs, und sorgen wir eigentlich dafür, dass Kinder, wenn sie in die Schule kommen, Deutsch können? Denn ohne Deutschkenntnisse bei der Einschulung habe ich eigentlich kaum eine Chance, eine erfolgreiche Bildungskarriere zu machen."
Doch so leicht lässt Burgard sie nicht vom Haken. Er erinnert Prien daran, dass sie "diese Obergrenze für Migranten an Schulen" gerade als "ein denkbares Modell" bezeichnet habe. Und setzt nach: "Wie hoch sollte diese Quote denn aus Ihrer Sicht sein?"
Ein Stöckchen, viele Schlagzeilen
Prien zögert, dann springt sie auch über dieses Stöckchen. Anstatt zu sagen, dass eine solche Quote vielleicht denkbar sei, aber von ihr nicht befürwortet werde, antwortet sie: "Ich finde, da macht es immer Sinn, sich die Erfahrungen aus anderen Ländern anzugucken, ob das 30 oder 40 Prozent am Ende sind." Und will, sich sichtbar unwohl fühlend, gleich wieder zurück zu ihrer eigenen Botschaft: "Aber selbst dieses Modell wird nur dann Sinn machen und nur dann wirklich funktionieren, wenn diese Frage der Sprachförderung im frühen Alter funktioniert."
Weil sie offenbar spürt, in welche Position sie sich da hineinmanövriert hat, fügt Prien hinzu: "Und ich will mal sehr deutlich sagen, wir haben nicht nur Probleme mit Kindern mit Migrationsgeschichte, wir haben auch Probleme mit Kindern aus Familien, die schon immer hier waren."
Soweit der Ausschnitt aus dem Interview. Ein Scoop für Burgard. Hier einiges von dem, was in den Tagen danach berichtet wurde: "Prien offen für Migrationsquote an Schulen" (Tagesschau.de); "Bundesbildungsministerin Prien denkt darüber nach, die Zahl von Schülern aus Zuwandererfamilien zu deckeln" (Süddeutsche Zeitung); "Warum SPD, Grüne und Experten den Vorstoß von Bildungsministerin Prien kritisch sehen" (Tagesspiegel); "Karin Prien spricht ein existenzielles Problem an" (Cicero Online); "Ministerin Prien will Migrantenquote an Schulen – und entfacht Bildungsdebatte" (BILD); "Nur Bildungskriminelle sind gegen Priens Vorschlag" (nochmal BILD).
Ein Lehrstück, wie die mediale Sensationsspirale Stück für Stück überdreht: Plötzlich hat Prien, die etwas ungelenk auf eine Frage geantwortet hat, deren Zündstoff ihr allerdings klar sein musste, einen bewussten Vorstoß gemacht, sie hat "ein existenzielles Problem angesprochen". Und während von rechts geklatscht wird, kommt von links die Empörung: "Mit populistischen Plattitüden kommen wir nicht weiter", sagte die Linken-Politikerin Nicole Gohlke.
Prien selbst wiederholte am Tag danach beim Besuch einer Bremer Kita in Gegenwart von Bremens Bildungssenatorin Sascha Aulepp (SPD) ihren im Welt TV-Interview fehlgeschlagenen Versuch der Relativierung: "Man kann alle möglichen Dinge ausprobieren, wenn sie funktionieren." Nach ihrer Kenntnis sei eine solche Quote bislang nicht wissenschaftlich evaluiert. "Da muss man wirklich schauen, funktioniert das oder funktioniert das nicht."
Unterdessen war auch ihr Ministerium laut taz um Schadensbegrenzung im Nachhinein bemüht, indem eine Sprecherin daran erinnerte, dass Prien eine Quote lediglich als "eines von mehreren denkbaren Modellen" bezeichnet habe.
Wer hat hier wen benutzt?
Aber sie hat sich auf die Debatte eingelassen. Und als eine der erfahrensten Bildungspolitikerinnen musste sie wissen, welche öffentliche Zuspitzung daraus folgt. Spätestens, als sie die Frage nach konkreten Prozentwerten beantwortet hat. Bleibt die Frage: Wer hat hier eigentlich wen benutzt? Der Medienzirkus eine Politikerin, die auf dem falschen Fuß erwischt wurde? Oder die Politikerin, die eine Agenda hatte, den Medienzirkus?
Beide Deutungen wären ernüchternd. Bei letzterer käme die Frage nach der Motivation dazu. Dazu gleich mehr. Zunächst noch ein paar Feststellungen.
Erstens: In Dänemark gibt es gar keine gesetzlich festgelegte Migrantenquote an Schulen, worauf die taz zu Recht hinweist. Die Sozialdemokraten halten die 30 Prozent lediglich für politisch erstrebenswert, aber die Kommunen entscheiden selbst.
Zweitens: An Deutschlands allgemeinbildenden Schulen hatten 2023 rund 29 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund, bei den unter 5-Jährigen waren es 43 Prozent. Je nach Stadt und Region haben also schon jetzt und erst recht in ein paar Jahren die Hälfte der Kinder und mehr eine Einwanderungsgeschichte. Wie soll da eine Quote von 30, 40 oder 50 Prozent funktionieren? Außerdem: Wie genau wollte man "Migrantenkinder" im Sinne einer Schulquote überhaupt definieren? Nach Pass? Nach Herkunft der Eltern? Nach Sprachstand? Und folgt der automatisch aus dem Migrationsstatus? Wohl kaum.
Drittens: Kein Kind darf mit Hinweis auf unzureichende Sprachkenntnisse oder irgendwelche Quoten die Einschulung verweigert werden, sondern der Staat muss für alle Kinder den Förderbedarf diagnostizieren und rechtzeitig die nötigen Fördermaßnahmen garantieren.
Viertens: Tritt man einen Schritt zurück, sieht man, dass die Debatte überhaupt nicht neu ist. Um die soziale – nicht die sprachliche – Segregation zu bekämpfen, wird in den USA seit 1971 das "Busing" eingesetzt: Afroamerikanischen Kindern und Jugendlichen wurde so ermöglicht, in vorwiegend weißen Wohngegenden Schulen zu besuchen, die eine bessere Ausstattung hatten. Eine bis heute vieldiskutierte Maßnahme. Aber eine, die selten am Widerstand der schwarzen Community scheiterte, dafür aber Widerstand bei Weißen hervorrief – und zu Ärger sogar zwischen Kamala Harris und Joe Biden führte.
Fünftens: Zurück nach Deutschland und unabhängig von konkreten Quoten: Wollte man den Migrantenanteil an innerstädtischen Schulen in Berlin, Essen oder anderswo von bis zu 100 Prozent auf die Hälfte senken, hätte das eine entsprechend höheren Anteil in den sozial bessergestellten Stadtteilen zur Folge. Wäre die bürgerliche Politik abseits starker Sprüche bereit, diese Konsequenz durchzufechten?
Sechstens: Apropos Durchfechten: Welche Rolle könnte eine bewusst ungleiche Schulfinanzierung spielen, die Schulen in sozialen Brennpunkten bei der Vergabe von Lehrerstellen und Investitionen noch viel deutlicher bevorzugt, als es das milliardenschwere "Startchancen"-Programm von Bund und Ländern nur andeutet? Und welche Bedeutung hätte die von Schwarz-Rot angekündigte Ausweitung der "Startchancen" auf die Kitas für flächendeckende Sprachtests und Sprachförderung vor Schuleintritt?
Und schließlich siebtens: Die Alternative zur deutschen Version des "Busing" wäre eine städtebauliche, doch sie führt weit über die Schulen hinaus. Wie schaffen wir es, die soziale Spaltung in den Städten zu überwinden, Quartiere im Abstieg wiederzubeleben und so mit einer Infrastruktur auszustatten, dass sie sich wieder durchmischen? Und wie erzeugen wir umgekehrt mehr Akzeptanz für Sozialwohnungen und Flüchtlingsquartiere in bürgerlichen Vierteln?
Das real existierende Desinteresse
Hier zeigt sich das wirklich Frustrierende: Während die Migrantenquote à la "Politikergrillen" tagelang die Schlagzeilen bestimmt, findet die Debatte über die Rolle von Schule im Sozialraum kaum statt, selbst die PISA-Meldungen über die große Gruppe abgehängter Neuntklässler verhallten in Rekordzeit. Hier wirkt es sich aus, das real existierende Desinteresse weiter Teile der Öffentlichkeit an der tatsächlichen bildungspolitischen Misere.
Falls, nur falls Karin Prien also der Meinung gewesen sein sollte, mit dem Eingehen auf die Migranten-"Obergrenze" in Schulen die mediale Aufmerksamkeitsökonomie auf diese eigentlich wichtigen Fragen lenken zu können – auf den Zusammenhang von Sprachenlernen, Schulstandorten und Bildungsgerechtigkeit –, dann wäre das zumindest als Anliegen nachvollziehbar. Bleibt etwas Konstruktives von diesem Vorstoß, der mehr wie ein Hereinstolpern aussah? Wir werden sehen.
Kommentare
#3 - Wünsche und Wählerwillen
Die Ministerin wünscht sich weniger Segregation; über den Weg, die zu senken, spricht dieser blog Text.
Ist es der Wunsch der Ministerin oder der Wunsch ihrer WählerInnen, die Segregation der SchülerInnen zu senken?
Die Ministerin denkt vielleicht mehr an die volkswirtschaftlichen Folgen von Mängeln in der Schulbildung und daran, dass in einem weniger segregierten Schulsystem mehr SchülerInnen profitieren können. Die wahlberechtigten Eltern von SchülerInnen im segregierten deutschen Schulsystem sind vielleicht ganz einverstanden damit, dass ihre Kinder davon profitieren, dass die Kinder anderer Eltern, die nicht wahlberechtigt sind, weniger vom Schulsystem profitieren als ihre eigenen Kinder.
Ich finde es gut, wenn MinisterInnen den Wunsch verfolgen, unser BSP durch gute Schulbildung zu sichern. Wenn die WählerInnen einverstanden sind, um so besser; ist den WählerInnen ihre eigene wirtschaftliche Sicherheit wichtiger als die des BSP, fängt die Kunst des Regierens an.
#4 - Danke für diesen Kommentar
Vielen Dank für diesen treffenden Kommentar.
An diesem Beispiel wird wie unsere Medienwelt im politischen Umfeld (nicht) funktioniert.
Man will kein Problem beschreiben oder gar lösen, man will Aufregung generieren. Aber dann wundern wir uns über Politikverdrossenheit.
Es würde ja schon einmal helfen, wenn die Journalisten in ihren Beiträgen den Kontext mindestens faktisch korrekt beschreiben.
#6 - Quote
Mir teilte Google eben auf Anfrage mit: "Über 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland haben einen Migrationshintergrund." Woher stammt die Zahl 23 % unter "zweitens" ?
Was aber leider selten gesagt wird: Der durchschnittliche (bundesweite) Anteil der Migranten an den Schulkindern besagt gar nichts, weil man die Kinder ja nicht bundesweit mischen kann, sie müssen an ihrem Wohnort zur Schule gehen. Und hier gibt es westdeutsche Großstädte, bei denen dieser Anteil längst über 50 % oder auch mal über 60 % liegt. Bei Frankfurt/M spricht man schon länger von 70 %.
Wenn man also eine "Quote" einführen wollte, dann müsste sie jedenfalls einiges über diesem durchschnittlichen Anteil liegen, und zwar städteweise bzw. gemeindeweise. Eine bundeseinheitliche Quote ist unmöglich. Wenn das alles aber irgendwann örtlich gegen 90 % oder darüber tendiert, ist die Diskussion gegenstandslos. Diejenigen, die die Quote als hässlich (oder rassistisch) empfinden, sollten lieber positiv sagen, wie Schule mit solchen Anteilen an Migranten noch funktionieren kann, und wie es mit der Integration steht. Dasselbe gilt übrigens für Kitas mit einem sehr geringen Anteil deutsch sprechender Kinder. Wie sollen da alle ein gutes Deutsch lernen? Genau das verspricht man sich doch von einer Kita-Pflicht, gell?
Zu dem "busing": Ich habe dazu gelesen, dass man es in USA weitgehend wieder abgeschafft hat, weil es die Erwartungen nicht erfüllt hat. Ist das nicht auch das Schicksal der meisten Maßnahmen in Deutschland? Was bitte hat denn mal so gewirkt wie es sollte und wie es angekündigt war?
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