Die Verantwortung der Wissenschaft
Wissenschaft ist angewiesen auf demokratische Institutionen und Menschenwürde. Wenn diese durch Massengewalt bedroht werden, darf sie sich nicht auf Neutralität zurückziehen. Ein Gastbeitrag von Hanna Pfeifer.
Hanna Pfeifer ist Politikwissenschaftlerin und Forschungsbereichsleiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Foto: Felix Matthies.
DIE PROBLEME UNSERER ZEIT wiegen schwer, ja sie sind existentiell. Wie lässt sich die Demokratie retten? Wie kann die Klimakatastrophe gebremst werden? Wie können Krieg und Genozid beendet werden? Und was ist dabei der Beitrag der Wissenschaft? Vor dem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Grenzziehung zwischen Aktivismus und wissenschaftlicher Tätigkeit von Forscherinnen besonders drängend. Sie muss praktisch beantwortet werden – institutionell wie individuell.
Schon lange wird wissenschaftlich darüber gestritten, wie politisch Wissenschaft ist und sein darf. Eine Einlassung als Wissenschaftlerin jenseits des akademischen Diskurses, etwa in Zeitungen, ist deshalb sowohl fachwissenschaftliche als auch politische Positionierung. Eine verordnete Rollentrennung, wie sie von den Verfechtern einer möglichst wertneutralen Wissenschaft gefordert wird, stößt hier schnell an Grenzen.
Zu diesen Verfechtern zählen Alexander Bogner und Caspar Hirschi. In der FAZ nahmen sie kürzlich unter der Überschrift "Rollentausch von Aktivisten und Antiakademikern" eine Symmetrisierung von "Selbst- und Fremdpolitisierung der Wissenschaft" vor, indem sie beide Phänomene als Gefahr für Wissenschaftsfreiheit darstellten. Als Archetyp der Fremdpolitisierung skizzierten sie die Entwertung methodengeleiteter Wissensproduktion durch Donald Trump, der Wissenschaft als ideologische Maschinerie der Woken denunziert.
Für die kritisierte Selbstpolitisierung zogen sie die Entscheidung der International Sociological Association (ISA) heran, die Mitgliedschaft der Israelischen Gesellschaft für Soziologie (ISS) wegen deren unzureichender Distanzierung von der Gewalt des israelischen Militärs in Gaza zu suspendieren. Dies käme einem "politischen Bekenntniszwang" und einer "bedingungslosen Solidarisierung mit Palästina" gleich – trotz einer "Vielfalt an legitimen Sichtweisen auf den Nahostkonflikt".
Die Akademie unpolitisch lassen?
Die Autoren leiteten daraus ab, dass Wissenschaftlerinnen als Bürgerinnen außerhalb der Universität politisch aktiv sein können, den "Hut der Wissenschaft" aber in "der Universität hängen" lassen sollten. Wissenschaft solle möglichst unpolitisch sein, denn erst so könne sie ihre Funktion des "ungehinderten Erkenntnisfortschritts" erfüllen.
Die Autoren beteuern ihr Interesse am Schutz wissenschaftlicher Freiheit. Doch schwach bleibt, was Bogner und Hirschi als normative und institutionelle Voraussetzungen von Wissenschaftsfreiheit benennen. Diese ist kein Freiheitsrecht im luftleeren Raum. Vielmehr gehört sie zu einem Gefüge von Rechten und Freiheiten, mit denen sie in Spannung geraten kann, von denen sie aber zugleich abhängt. Ohne demokratische Institutionen ist Wissenschaftsfreiheit allenfalls eingeschränkt zu verwirklichen. Die Leugnung der universellen Menschenwürde ist mit ihr unvereinbar. Und Rechtstaatlichkeit ist zentral, damit Wissenschaftsfreiheit nicht leeres Versprechen bleibt, sondern einklagbares Recht.
Angriffe auf die Wissenschaft „von außen“ sind deshalb eingebettet in den systematischen Abbau von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie Grund- und Menschenrechten. Wo Wissenschaftsfreiheit beschnitten wird, sind autoritäre Übergriffe nicht weit. Besonders eindrücklich zeigt sich das aktuell in den USA unter der zweiten Amtszeit Donald Trumps – eine Analyse, die auch Bogner und Hirschi teilen.
Aber reicht es in einer solchen Situation, mit dem „Bürgerinnenhut“ Protest zu üben und die Akademie unpolitisch zu lassen? Oder hat die Wissenschaft nicht vielmehr einen kollektiven Auftrag, sich aktiv gegen den Abbau ihrer eigenen Grundlagen zu stellen – gerade auch mit den Erkenntnissen ihrer Forschungstätigkeit?
Viel spricht dafür, dass im Kampf gegen den politischen Umbau, wie er in den USA zu beobachten ist, alle individuellen wie institutionellen Ressourcen eingesetzt werden müssen. Zumindest aber kann es keine Pflicht der Wissenschaft oder der Wissenschaftlerin sein, bei der Unterminierung ihrer eigenen Existenz tatenlos zuzusehen. Untätig zu bleiben, ist ebenfalls eine Form des Aktivismus – nämlich die des aktiven Verleugnens der Gefährdung des Wissenschaftsbetriebs.
Wie verhält es sich nun mit der Politisierung „von innen“ im Falle des ISA-Beschlusses? Bogner und Hirschi behaupten, er sei ein Zwang zur Parteinahme in einem Konflikt mit vielfältigen legitimen Einschätzungen. Aber wo liegen die Grenzen dieses Raums gerechtfertigter, also sachlich und normativ gut begründbarer Urteile? Im konkreten Fall lässt sich das nur mit zwei weiteren Fragen beantworten: Begeht Israel in Gaza schwere Völkerrechtsverstöße, insbesondere einen Genozid? Und: Welche Verantwortung tragen akademische Institutionen und der Wissenschaftsbetrieb, wenn solche Verbrechen geschehen?
Das Ringen der Wissenschaft
Die erste Frage ist inzwischen wissenschaftlich breit untersucht. Zwar ringt die Forschung hier mit Ungewissheit – eine ihr wohlvertraute Herausforderung. Diagnosen laufender Prozesse gehören zu ihren Aufgaben, ob bezogen auf den Klimawandel, eine Pandemie oder ein Gewaltgeschehen. Sie muss auf Basis verfügbarer Daten methodisch fundierte Einschätzungen treffen, die sie laufend revidiert.
Auch bei Massengewalt, deren Legitimation, Qualität und Ausmaß einen Genozid befürchten lassen, gilt: Wissenschaft muss trotz beschränktem Wissen und politischer Brisanz zu tragfähigen Einschätzungen kommen. Heute ziehen viele etablierte Forscher auf der Grundlage vorliegender Evidenz den Schluss, dass Israel in Gaza einen Völkermord begeht. In Gaza sind Wissenschaftlerinnen, Studenten und das gesamte Bildungssystem von der exzessiven Gewalt betroffen. Freie Forschung und Lehre sind dort nicht mehr möglich.
Wenn wir Zeuginnen eines Völkermords und der Zerstörung eines ganzen Bildungssystems sind: Was ist dann die Verantwortung von Wissenschaft? Kann sie sich auf ihren vermeintlich unpolitischen Kern, ihre Werturteilsfreiheit zurückziehen? Oder muss sie prüfen, welche spezifischen Ressourcen sie hat, um zur Unterbrechung eines Genozids und zur Wiederherstellung freier wissenschaftlicher Tätigkeit beizutragen?
Zwei globale Fachverbände haben dies jüngst getan. Erstens suspendierte die ISA die israelische Fachvereinigung – wie zuvor die russische Gesellschaft für Soziologie nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine. In beiden Fällen geht es um das Aussetzen der Kooperation mit Vereinigungen, die sich nicht gegen schwere Völkerrechtsbrüche ihrer Regierung positionieren.
Die International Association of Genocide Scholars (IAGS) stellte zweitens in einer Resolution fest, dass Israels Gewalt in Gaza die juristischen Tatbestandsmerkmale eines Genozids erfüllt. Ihre Aufgabe sieht sie darin, der Öffentlichkeit wissenschaftliche Expertise zur Verfügung zu stellen und so bei der Verhinderung wie Beendigung von Genoziden mitzuwirken. In beiden Organisationen gingen den Beschlüssen aufwändige Verfahren und kontroverse Debatten voraus.
Aktuell kann man – als Wissenschaftlerin und Zeitgenossin – nur hoffen, dass Hamas‘ Ankündigung, die in Gaza verbleibenden Gefangenen freizulassen, und die Pausierung der Einnahme von Gaza Stadt durch die israelische Armee zu einer nachhaltigen Beendigung der Gewalt führen, auch wenn dies noch nicht ausgemacht ist. Zugleich kann man auch mit den zitierten Antworten der Wissenschaft unzufrieden sein oder ihre Wirksamkeit bezweifeln. Doch sie sind nicht als Parteinahme in einem Konflikt misszuverstehen, in dem zwei Seiten mit Waffengewalt gegeneinander kämpfen.
Vielmehr sind sie Ergebnis eines Ringens mit der Frage, wie Wissenschaft ihre Verantwortung für den Schutz menschlichen Lebens in Zeiten des Genozids wahrzunehmen hat. Sie sind als Versuch zu werten, einen Beitrag zur Aufrechterhaltung völkerrechtlicher Normen und zur Beendigung von schwerster Gewalt gegen Zivilisten zu leisten. Sie drücken gleichzeitig die Einsicht aus, dass Wissenschaft für den Erhalt ihrer eigenen Schaffensbedingungen Sorge tragen muss. Dazu gehört der Einsatz für demokratische Institutionen, die Bewahrung von Grundrechten und -freiheiten und den Schutz gleicher Menschenwürde – um ihrer selbst willen und als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft.
Kommentare
#1 - Globalisierung in Wissenschaft und Business
"... die Mitgliedschaft der Israelischen Gesellschaft für Soziologie (ISS) wegen deren unzureichender Distanzierung von der Gewalt des israelischen Militärs in Gaza zu suspendieren."
Wieso in aller Welt soll dieses innerhalb der internationalen Wissenschaft so geschehen, während das globalisierte Business der großen Konzerne sich selbstverständlich um solche Dinge gar nicht kümmert (außer bei staatlichen Sanktionen)? Auch Bertelsmann macht mit China Geschäfte, während die Bertelsmann-Stiftung sich als Gralshüter der Demokratie darstellt. Entsprechend bei anderen Großunternehmen und anderen Diktaturen. Auch Fußballmeisterschaften überlässt man ohne Bedenken Ländern mit sehr zweifelhaften Regierungen. Die FIFA profitiert davon.
Die Wissenschaft jedenfalls ist in Israel hoch entwickelt, besonders in meinem Fach. Von der arabischen Seite dagegen hört man nicht viel, allenfalls von reichen Universitäten, die westliche Wissenschaftler mit viel Geld einkaufen. Fragt sich, für welche Seite sich Humboldt entscheiden würde, wenn er die Wahl hätte. Ich werde nicht versuchen, israelische Kollegen auszubooten, egal wo die politisch stehen. Sie verdienen eher unsere Unterstützung "ad personam". Wir haben auch nie ungarische Wissenschaftler für Orbans Politik verantwortlich gemacht oder russische für Putins Politik.
#1.1 - Lieber Herr Kühnel, Sie…
Lieber Herr Kühnel,
Sie schreiben "Wir haben auch nie ungarische Wissenschaftler für Orbans Politik verantwortlich gemacht oder russische für Putins Politik.".
Ich möchte nur anmerken, dass Ihre Aussage nicht der Wahrheit entspricht. Ich habe eng mit russischen Wissenschaftlern zusammen gearbeitet. Kurz nach dem Angriff auf die Ukraine im Feb 2022 wurden Forschungsförderung (DFG, BMBF, EU-Horizon, ...), und auch institutionelle Koorperationen beendet. Die Einstellung der beteiligten Wissenschaftler*innen spielte dabei gar keine Rolle. Ich habe ein paar Links unter eingefügt.
Freundliche Grüße, Thorsten Warneke
https://www.hrk.de/themen/internationales/auswirkungen-des-krieges-in-der-ukraine/konsequenzen-fuer-die-deutsch-russische-hochschulkooperation/
https://www.kooperation-international.de/aktuelles/nachrichten/detail/info/umfassende-konsequenzen-fuer-die-deutsch-russische-kooperation-einschraenkungen-der-zusammenarbeit-in
https://www.fz-juelich.de/en/zb/news/announcements/2022/zb_va_cooperation_ru_by_consequences_publishing_activities_2022_03_08
https://www.mpq.mpg.de/6700986/02-solidarity-with-people-in-ukraine
#1.1.1 - Sanktionen
Sie sprechen von anderen Dingen als ich. Wenn es offizielle staatliche Sanktionen gegen ein Land gibt, dann hat das die Auswirkungen wie in Ihren Links beschrieben. Diese Maßnahme kommt dann aber von der Regierung und nicht aus der Wissenschaft selbst. Der Artikel handelt aber von Initiativen aus der Wissenschaft selbst, so hatte ich das "WIR haben ... verantwortlich gemacht" gemeint. Ich wusste auch, dass russische Kollegen nicht mehr nach Deutschland eingeladen werden durften, das war aber nicht der Wunsch der Institute oder Fachgesellschaften. Immerhin durfte es Vorträge geben, die aus der Ferne rein elektronisch übertragen wurden, also digitale Kontakte. Man hat eben auch keine persönlichen Bekenntnisse der Leute verlangt, so wie jüngst von einem Dirigenten oder von einer prominenten Sängerin.
Dieselben staatlichen Sanktionen gegen Israel scheint es nicht gegeben zu haben. Vielmehr haben wissenschaftliche Fachgesellschaften von sich aus Sanktionen beschlossen, wenn die entsprechende israelische Gesellschaft sich nicht so positioniert hat wie erwünscht. DAS halte ich für Unsinn. Wir haben kein Recht, Lippenbekenntnisse ausländischer Kollegen zu verlangen, nur damit bei uns irgendwelchen politischen Lippenbekenntnissen gehuldigt wird. Ich verweise auch auf den Kommentar #2.
#1.2 - > Wir haben auch nie…
> Wir haben auch nie ungarische Wissenschaftler für Orbans Politik verantwortlich gemacht oder russische für Putins Politik.
Naja, es wurden von deutscher Seite (fast) alle institutionellen Kontakte mit der russischen Wissenschaft abgebrochen. Zu Ungarn: ein (mutmaßlicher) Völkermord ist schon etwas anderes als eine autoritäre Regierung.
#2 - Who is the scholar?
"Die International Association of Genocide Scholars (IAGS) stellte zweitens in einer Resolution fest, dass Israels Gewalt in Gaza die juristischen Tatbestandsmerkmale eines Genozids erfüllt. Ihre Aufgabe sieht sie darin, der Öffentlichkeit wissenschaftliche Expertise zur Verfügung zu stellen und so bei der Verhinderung wie Beendigung von Genoziden mitzuwirken. In beiden Organisationen gingen den Beschlüssen aufwändige Verfahren und kontroverse Debatten voraus."
M.E. zeichnet sich ein wissenschaftliches Vorgehen in erster Linie durch ordentliche Recherche aus. Dieser Artikel z.B. ist schon am 15.09. erschienen:
https://www.juedische-allgemeine.de/politik/voelkermord-experten-fordern-von-selbsternannter-wissenschaftlergruppe-ruecknahme-der-anschuldigungen-gegen-israel/
Hätte - bei aller Berechtigung der Kritik gegen die isrealische Kriegsführung - nichts gekostet, auch kontroverse Stimmen zu diskutieren - wie es wissenschaftlich eigentlich üblich wäre.
Dann hätte sich vermutlich nicht so unproblematisch von der "Verantwortung für den Schutz menschlichen Lebens in Zeiten des Genozids" schreiben lassen und sich nur auf Israel zu beziehen. Und das in (schon lange bestehenden!) Zeiten, in denen in vielen Ländern der Erde Menschenrechtsverletzungen und Genozide verübt worden sind, die von der Wissenschaft en gros (bis auf entsprechende Spezialgebiete) geflissentlich ignoriert wurden und werden. Wo ist da die Verantwortung der Wissenschaft, wo finden dazu die Proteste statt? Wenn es um Israel geht, stehen natürlich alle sofort auf der Matte. Eine wissenschaftliche Aufgabe könnte m.E. sein, sich klar zu machen, was dieses Phänomen mit Antisemitismus zu tun hat, und das nicht nur für Antisemitismusforscher:innen.
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