"Wir wissen ziemlich genau, was zu tun ist"
Nach den alarmierend schlechten Bildungstrend-Ergebnissen hat Bundesbildungsministerin Karin Prien den Ländern einen "Schulterschluss aller Verantwortlichen" angeboten. Aber was genau hat sie vor? Ein Interview über geteilte Zuständigkeiten, konkrete Meilensteine, den Digitalpakt 2.0 – und gemeinsame Hoffnungen auf einen Neustart im Bildungsföderalismus.
Karin Prien war Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein und Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Seit Mai 2025 steht die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende an der Spitze des neu zusammengesetzten Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Foto: Dominik Butzmann/BMBFSFJ/photothek.de.
Frau Prien, die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends seien ein „ernsthaftes Warnsignal“, haben Sie vergangene Woche in der Bildungsministerkonferenz gesagt. Es brauche eine "nationale Kraftanstrengung im Schulterschluss aller Verantwortlichen", einen "Paradigmenwechsel". Der Bund stehe bereit, "damit wir gemeinsam die Trendwende schaffen". Ähnliche Appelle haben wir allerdings schon häufiger gehört. Ihre FDP-Vorgängerin Bettina Stark-Watzinger lud sogar zum Bildungsgipfel ein – zu dem fast keine Landesminister kamen, Sie übrigens auch nicht. Warum soll das diesmal anders sein?
Wir brauchen eine ehrliche Debatte. Das IQB-Ergebnis gibt uns einen besorgniserregenden Befund. Bei allem Respekt, es geht nicht mehr um das Ausrufen von symbolischen, schlecht vorbereiteten Bildungsgipfeln, dafür ist das Problem zu groß und es würde die notwendigen Veränderungen auch nicht bewirken. Nein, wir wissen ziemlich genau um die Handlungsbedarfe.
Welche sind das?
Allein die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der KMK hat uns schon viele Hinweise dazu gegeben, wo auf den verschiedenen staatlichen Ebenen weiter reformiert und besser umgesetzt werden muss. Natürlich ist es wichtig, die Lage deskriptiv noch besser zu erfassen und auch noch bessere Ursachenforschung zu betreiben im Rahmen eines weiter entwickelten Bildungsmonitorings und einer stärker wirkungsorientierten Bildungsforschung. Aber worauf es im Kern jetzt ankommt ist, gemeinsam und evidenzbasiert auf allen staatlichen Ebenen mit vereinten Kräften für eine bessere Bildung zu arbeiten!
"Ich meine das auch so: Gemeinsam das Aufstiegsversprechen für Kinder und Jugendliche wieder einlösen – für die Zukunft unseres Landes, für die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit und eine positive demokratische Entwicklung."
Was aber soll das eigentlich genau heißen: "eine nationale Kraftanstrengung im Schulterschluss aller Verantwortlichen"?
Das Schulsystem allein, das habe ich auch am Donnerstag gesagt, wird diese Herausforderungen nicht stemmen können. Darum möchte ich Bund, Länder und Kommunen aufrufen, im engen Schulterschluss zu handeln – gemeinsam mit den Familien, Kitas, den Schulen, der Bildungsverwaltung, der Kinder- und Jugendhilfe und den für die Lehrkräftebildung zuständigen Hochschulen. Und ich meine das auch so: Gemeinsam das Aufstiegsversprechen für Kinder und Jugendliche wieder einlösen unter veränderten Rahmenbedingungen, für die Zukunft unseres Landes, letztlich für die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit und eine positive demokratische Entwicklung.
Große Worte, Frau Prien.
Immer mehr Bürgerinnen und Bürger verlieren das Vertrauen in den Staat und wollen über Kompetenzstreitigkeiten nichts mehr hören, sondern wollen die richtigen Schritte zur Trendumkehr im Bildungssystem sehen. Und deshalb ist mein Angebot ein kollaborativer Arbeitsprozess, orientiert an gemeinsamen Bildungszielen anstelle von Verantwortungsdiffusion. Ich bin sehr froh, dass alle anwesenden Bildungsminister bei der Bildungsministerkonferenz (BMK) einem solchen Arbeitsprozess auf Staatssekretärsebene sofort zugestimmt haben. Es ist uns ernst, Herr Wiarda, und es geht um viel.
Konkret haben Sie vorgeschlagen, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, die schon bis zur 6. Bildungsministerkonferenz im Dezember Meilensteine für einen solchen Prozess definiert. Was können solche Meilensteine sein?
Das gebe ich jetzt nicht vor, noch bevor wir überhaupt gestartet sind. Die Handlungsfelder sind jedoch relativ klar, wenn wir das Problem, das sich in den gesunkenen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler kristallisiert, multiperspektivisch und über Ressortgrenzen hinweg betrachten und den Trend umkehren – und zwar bei den Mindeststandards, aber eben auch bei den Regel- und Optimalstandards: Wie können wir Schüler besser befähigen, von Anfang an beim Stoff mitzukommen, den Stoff zu verstehen und das Wissen anzuwenden? Welche Rolle spielen die Eltern, welche Rolle spielt die Freizeitgestaltung, die psychische Gesundheit und das Gefühl, dazu zu gehören? Und welche Rolle spielt auch, wie motivierend Lehrkräfte den Unterricht gestalten? Was tun wir für die Qualitätsentwicklung an Schulen? Wo gibt es Herausforderungen, Zielklarheit, fehlendes Verantwortungsbewusstsein und mangelnde Flexibilität? Tut Politik genug, an welchen Stellen ist sie gefragt?
"Es geht mir überhaupt nicht um ein Blame Game, sondern um eine vorbehaltlos wertschätzende und konstruktive Zusammenarbeit aller Bildungsakteure."
Damit Sie als Bund im Zweifel sagen können: Sorry, da sind die Länder gefragt?
Es geht mir überhaupt nicht um ein Blame Game, sondern um eine vorbehaltlos wertschätzende und konstruktive Zusammenarbeit aller Bildungsakteure – Bundespolitik, Bundesländer, die für Lehrkräftebildung zuständigen Universitäten, Schulen, Kitas und Kommunen, Verbände und außerschulische Bildungsorte, Kinder- und Jugendhilfe sowie im Kern letztlich die Familien. Die Eltern gehören mit an Bord, lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen. Das Bewusstsein für die Bedeutung der Schulbildung muss auch zu Hause vorhanden sein.
"Multiperspektivisch und über Ressortgrenzen hinweg betrachten und den Trend umkehren": Müssen Sie die Ziele nicht plastischer und verbindlich machen, wenn Sie das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit der Bildungspolitik zurückgewinnen wollen? Wie wäre: "Wir werden den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards verfehlen, also nur schlecht lesen, schreiben oder rechnen können, bis zum Jahr 2030 um ein Viertel verringern und bis 2035 halbieren?" So ähnlich ist es doch im Startchancen-Programm bereits angelegt.
Der Bildungsföderalismus hat das Potenzial, durch passgenaue Lösungen in den Bundesländern und Engagement, das vor Ort wirkt, Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates zu schaffen. Ich denke es wird im Rahmen des gemeinsamen Arbeitsprozesses nun gemeinsame Ziele geben – zum Beispiel das Erreichen von Mindeststandards, aber auch von Regel- und Optimalstandards –, zu denen die Bundesländer quantitativ unterschiedliche Zielmarken setzen werden. Dass es in einem großen Land wie Deutschland mit seinen föderalen Traditionen die eine Lösung von der Stange für alle geben kann, von dieser Vorstellung sollte man sich verabschieden.
Mit Verlaub: Die Verhandlungen um den Digitalpakt 2.0 waren nicht gerade eine Empfehlung für die „kraftvolle Mitwirkung des Bundes“, die Sie den Ländern anbieten. Eher für Aufschieben, Taktieren und – zuletzt – Verwirrungstiften. Wird jetzt im Dezember endlich unterschrieben, wie die Länder fordern?
Dass der Bund aufgeschoben und taktiert hätte, das weise ich entschieden zurück, Herr Wiarda.
"Der Digitalpakt 2.0 kommt. Er kommt bundesseitig vollständig finanziert – und das ist wichtig für das Vertrauen zwischen Bund und Ländern."
Das haben Sie doch der früheren Bundesministerin einst selbst vorgeworfen?
Mir gehen die Dinge oft auch zu langsam, aber es bleibt dabei, dass der Digitalpakt 2.0 kommt und auch in meiner neuen Rolle eine Top-Priorität ist. Ich habe mich früh dafür eingesetzt, dass der Digitalpakt 2.0 aus dem Infrastruktur-Sondervermögen finanziert werden kann, nachdem die Ampelregierung keinerlei Vorsorge für die Finanzierung getroffen hatte. Letzte technische Details, die dieser Finanzierungsweg bedeutet, haben wir zuletzt mit dem Finanzressort geklärt. Es gibt daher keinen Grund für Verwirrtsein: Selbstverständlich steht der Bund zu seinem Wort und der Digitalpakt 2.0 kommt. Er kommt auf Basis des aktuellen Verhandlungsstandes, bundesseitig vollständig finanziert wie geplant über das Sondervermögen. Und das ist wichtig für die Herausforderungen, vor denen wir bekanntlich stehen und auch für das Vertrauensverhältnis zwischen Bund und Ländern.
Zuletzt hatte ein Haushaltsvermerk für Aufregung in den Ländern gesorgt, der die Verabredungen zur Finanzierung des Länderanteils in Frage stellte. Was war da los? Und können Sie zusichern, dass das Problem bis Dezember gelöst ist?
Der Haushaltsvermerk bezog sich nur auf den Leertitel im Bundeshaushalt 2025. Für 2026 wird der Haushaltsgesetzgeber die Bund-Länder-Vereinbarung entsprechend der vorhandenen Eckpunkte berücksichtigen. Es gab darüber hinaus zwischen dem BMBFSFJ und dem BMF technische Fragen mit Blick auf die Finanzierung aus dem Sondervermögen, das der Gesetzgeber ja gerade erst beschlossen hat. Die Frage war zum Beispiel, wie der Bundesanteil über das Sondervermögen finanziert werden kann. Diese technischen Fragen konnten wir ausräumen, das ist jetzt also geregelt. Wir gehen deshalb davon aus, dass wir den Digitalpakt noch in diesem Jahr verabreden können, sodass der vorzeitige Maßnahmenbeginn zum 1. Januar 2025 kommt.
Ich verstehe Sie so, dass der Länderanteil wie in den Eckpunkten vereinbart zu zwei Milliarden Euro über die Anrechnung bereits vorhandener Investitionen der Länder laufen wird? Oder doch mit Geld aus dem Sondervermögen-Anteil der Länder?
Es geht bei den Ländern nicht um Investitionen, sondern im Wesentlichen um Maßnahmen, die Personaleinsätze erfordern. Das Sondervermögen der Länder kommt als Gegenfinanzierung für solche Ausgaben kaum in Betracht. Müssten die Länder die Investitionen zur Hälfte finanzieren, könnten sie das über ihren Teil des Sondervermögens. Der Digitalpakt 2.0 wäre damit zu 100 Prozent aus Mitteln finanziert, die der Bund aufnimmt. Nur die Einbeziehung von Ausgaben, die der Bund verfassungsrechtlich nie finanzieren dürfte, sichert eine echte Anteilsfinanzierung der Länder. Und das sind Ausgaben für Digitalisierung jenseits der Investitionen, also zum Beispiel Personalkosten.
Und bei der Anrechnung dieser Kosten sind die Chef-Haushälter der Koalitionsfraktionen an Bord?
Die Lösung, die wir für den Bundesanteil gefunden haben, habe ich selbstredend mit den Fraktionen besprochen und auch darauf hingewiesen, dass die Länder insbesondere bei der Schulleiter- und Lehrkräftefortbildung und der Unterrichtsentwicklung liefern müssen, damit die zeitgemäße Digitalisierung des Unterrichts an den Schulen gelingen kann.
Kommentare
#1 - "Wir wissen ziemlich genau,…
"Wir wissen ziemlich genau, was zu tun ist."
Ja, man wird Gelder bewilligen für dieses und jenes, aus Sicht der Minister die einzige Möglichkeit. Nur leider weiß wohl niemand, wie man Geld effizient in Bildung verwandelt. Die Testergebnisse sind nicht dort am besten, wo man das meiste Geld hineingibt. Sollen wir wirklich glauben, dass "die zeitgemäße Digitalisierung des Unterrichts" hier Wunder wirkt? Ich glaube solchen Ankündigungen nicht mehr. Die bürokratische Umsetzung spielt eine große Rolle, wir haben es bei der Inklusion schon gesehen. Und es gibt zu viele Dinge, die sich jahrzehntelang mit negativen Folgen eingeschliffen haben, z.B. eine wachsende Weichheit gegenüber mangelhaften Schülerleistungen und schlechtem Benehmen (einschl. Gewalttätigkeit). Diese "Geister" bekommt man nicht wieder in die zugehörigen "Flaschen", aus denen sie entwichen sind. Man lobt die kanadische Schule, will aber die dortige Leistungsorientierung partout nicht haben ("wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass"), das Wort "Leistung" ist an unseren Schulen inzwischen negativ besetzt und klingt verdächtig nach "sozial ungerechter Selektion":
https://www.boell.de/sites/default/files/assets/boell.de/images/media_de/bildungkultur/Schloemerkemper_Lob_des_Koennens.pdf
(wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass)
#1.1 - Digitalisierung
Ergänzung: Die "zeitgemäße Digitalisierung des Unterrichts" wird von nahezu allen Schulpolitikern in naiver Weise gepriesen. Dazu findet man aber auch solche Stimmen, die sich immerhin auf die sonst so hoch geschätzte Unesco berufen:
"Eine digitale Bildungsinfrastruktur sei teuer, und ihre Umweltkosten würden häufig unterschätzt. Es gebe nur wenig solide Forschung, die belege, dass digitale Technologie einen Mehrwert für die Bildung bringe, so die Unesco in ihrem Bericht “2023 Global Education Monitor”. Ein Großteil der Nachweise wurde von privaten Bildungsunternehmen finanziert, die versuchen, digitale Lernprodukte zu verkaufen. Ihr wachsender Einfluss auf die Bildungspolitik in der ganzen Welt sei “ein Grund zur Sorge”, so der Bericht weiter."
#2 - Wir wissen nicht, was zu tun ist
Ich muss dem Vorposter recht geben: ganz offensichtlich weiß Frau Prien NICHT, was zu tun ist. Und "wir" (mich eingeschlossen) wissen es auch nicht. Es herrscht im Bildungsbereich große Ratlosigkeit. Das zu verstehen, wäre vielleicht ein erster Schritt, anstatt Phrasen zu dreschen wie in diesem Interview.
Es gibt wenige Dinge, die wohl unstrittig sind:
Ansetzen müsste jede Trendwende bei Kitas und Grundschulen. Erstere müssten strukturierte und hochwertige frühkindliche Bildung anbieten. Dazu fehlt das Personal, und zwar vor allem qualitativ, und es ist völlig unklar, wo es herkommen könnte.
Die Grundschulen müssten endlich aufhören, sich ihrer Verantwortung breitenwirksam zu entziehen. Sie müssen sich auf Basiskompetenzen fokussieren und diese breit vermitteln. Auch hier fehlt Personal, aber auch ein klarer Fokus.
Insgesamt hat man sich einer Pädagogik verschrieben, der Leistung seit langem egal ist und die es sich mit einem endlosen Tanz um Schüler- und Elternbefinden bequem gemacht hat. Sozialempirische Befunde, wie die Abhängigkeit des Schulerfolgs von Elternhaus sind in Begründungen übersetzt worden, warum man von keinem Kind noch etwas erwarten kann. Mit Organisationen wie dem IQB hat man den Bock zum Gärtner gemacht.
Sehr auffällig ist auch, dass Kompetenzen von erfahrenen Lehrerinnen und Lehrern seit Jahrzehnten verachtet und ignoriert werden. Das ist nicht nur demotivierend, sondern töricht. Dass man sich zugleich einen erheblichen Anteil von wenig kompetenten Personal leistet, kommt auf der anderen Seite der Medaille hinzu.
Neuen Kommentar hinzufügen