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Von Gangelt lernen

Warum die Heinsberg-Studie trotz des Wirbels der vergangenen Tage wichtig ist – und was die Debatte über bisherige Versäumnisse in der Erforschung der Pandemie aussagt.

Ortseinfahrt von Gangelt. Huckety: "Ortseingang von Gangelt.jpg", CC BY-SA 3.0.

WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS ist in der Corona-Pandemie gefragt wie nie. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Job von Wissenschaftlern im Augenblick besonders dankbar ist. Im Gegenteil: Je relevanter ihre Äußerungen für den politischen Entscheidungsprozess werden, desto härter bläst ihnen der Wind der öffentlichen Meinung entgegen.

 

Beispiel 1: Als die 26-köpfige Arbeitsgruppe der Leopoldina gestern Mittag ihre mit Spannung erwarteten Empfehlungen vorlegte, inklusive Fahrplan für eine schrittweise Lockerung des Shutdown, hagelte es neben viel Zustimmung heftige Kritik. Realitätsfremd! Einseitig! Und fast nur Männer unter den Autoren der Stellungnahme! Was wüssten die schon über den Alltag in Schulen und das Verhältnis kleiner Kinder zur Hygiene, empörten sich Lehrkräfte in den sozialen Medien. Dass nur zwei Frauen an den Empfehlungen mitgearbeitet haben, ist in der Tat, wie es ein Kritiker auf Twitter ausdrückte, "erschütternd". Und doch, wer die 16 Seiten Text liest, findet ein Papier mit Schwächen und Stärken; den Vorwurf allerdings, hier werde mehrheitlich einseitig und ohne Realitätsbezug argumentiert, wird man kaum aufrechterhalten können.

 

Beispiel 2: Nachdem der Bonner Virologe Hendrik Streeck und sein Team am Donnerstag vorläufige Ergebnisse zur Verbreitung des Coronavirus in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg präsentiert hatten, gab es erst dicke Schlagzeilen. Spektakulär seien die Ergebnisse, sie veränderten den Blick auf die Pandemie. Etwas später blieben zwar die dicken Schlagzeilen, doch plötzlich lauteten sie: "Disput der Virologen", auch von einem "Verriss" der Studie durch Kollegen war die Rede. Tatsächlich hatte sich als einer von mehreren Christian Drosten zurückhaltend geäußert, unter anderem weil die Studie selbst schriftlich noch nicht vorlag – womit der Charité-Virologe aber inhaltlich noch gar nicht den Stab über Streecks Arbeit gebrochen hatte. Drosten selbst erregte sich über die Streit-Interpretation, es gebe keinen "Vorwurf an die Kollegen, nur eine Nachfrage". Doch hängen blieb in der Öffentlichkeit der Anschein eines ins Persönliche gehenden Forscherkonflikts.

 

Über dem Drang nach Antworten wird manchmal
das Wesen wissenschaftlicher Erkenntnis vergessen

 

Beide Beispiele haben etwas gemeinsam. Der Drang nach verlässlichem Wissen über das Coronavirus und seine Folgen ist so gewaltig, auch politisch so dringend, dass darüber gelegentlich vergessen wird, dass die Wissenschaft in der Erforschung der Pandemie noch ziemlich am Anfang steht. Und dass der wissenschaftliche Erkenntnisprozess fast nie geradlinig verläuft, sondern in Windungen: Jedes Mal, wenn neues Wissen hinzukommt, wird dieses Wissen mit dem bereits vorhandenen abgeglichen, und häufig müssen dann bislang aufgestellte Hypothesen verworfen oder angepasst werden.

 

Mit Chaos, Realitätsferne oder gar Beliebigkeit hat das erstmal rein gar nichts zu tun. Doch kann ein solcher Eindruck schnell entstehen, wenn Medien eine vorgelegte Empfehlung zunächst als der Weisheit letzten Schluss hochjazzen, um im nächsten Schritt jede Forscherdebatte, die darüber entsteht, automatisch als Infragestellung ihrer wissenschaftlichen Qualität zu interpretieren. Erst recht gilt das, wenn die Politik – wie in der aktuellen Situation – nicht anders kann, als bereits auf der Grundlage der jeweils vorliegenden vorläufigen Erkenntnisse weitreichende, das Leben vieler berührende Entscheidungen treffen zu müssen.

 

Doch auch die Wissenschaftler müssen sich ihrer besonderen Verantwortung in der Corona-Pandemie an jeder Stelle bewusst sein. Und hier muss sich Streeck, der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn ist, tatsächlich ein paar Fragen gefallen lassen. Vor allem diese: Wenn er und seine KollegInnen schon erste Zwischenergebnisse veröffentlichten, bevor eine wissenschaftliche Publikation vorlag, was man angesichts der Pandemie-Lage und dem Erwartungsdruck der Politik nachvollziehen kann – mussten Streeck und sein Team dann unbedingt auch noch eine Partnerschaft mit Storymachine eingehen, der von Ex-Bild-Chef Kai Diekmann mitbegründeten PR-Agentur, die unter anderem die Social Media mit News über das "Heinsberg-Protokoll" versorgt? Da sollten bei Medizin-Kommunikatoren eigentlich alle Alarmglocken schrillen: Diekmann war auch an der viel zu frühen Veröffentlichung eines umstrittenen Krebstestes beteiligt, der das Universitätsklinikum Heidelberg vergangenes Jahr in einen bis heute nicht verwundenen Skandal gestürzt hatte.

 

Und noch zwei Fragen: Haben sich Streeck, sein Pharmakologie-Kollege Gunther Hartmann und andere, ermutigt von Storymachine, nicht tatsächlich hier und da in der ersten Kommunikation ihrer – dies sei noch einmal betont – Zwischenergebnisse zu weit aus dem Fenster gelehnt? Haben sie sich vielleicht doch davon beeindrucken lassen, dass NRW-Ministerpräsident Achim Laschet (CDU) die Präsentation in seinem Beisein in der Staatskanzlei stattfinden ließ? Beides muss nicht den Wert der Studie an sich schmälern.

 

Gangelt spielt nur deshalb eine so große Rolle,
weil es an einschlägigen Studien fehlt

 

Dass eine Einzelfall-Studie wie die aus Gangelt überhaupt eine solche Bedeutung erlangt, dass sie solche – offensichtlich übertriebenen – Erwartungen an ihre bundesweite Aussagekraft weckt, deutet auf das womöglich dramatischste wissenschaftliche Defizit in der Erforschung der Corona-Pandemie hin. Ein Defizit, auf das gestern auch die Leopoldina erneut und diesmal an erster Stelle aufmerksam gemacht hat. Die bisherigen Datenerhebungen, schrieben die Wissenschaftler, seien zu "stark symptomgeleitet", woraus eine verzerrte Wahrnehmung des Infektionsgeschehens resultiere. Insbesondere "repräsentative und regionale Erhebungen des Infektions- und Immunitätsstatus" seien nötig, anders formuliert: Die Politik muss endlich wissen, wie stark das Virus tatsächlich verbreitet ist in der Bevölkerung, auch um seine tatsächliche Gefährlichkeit zu kennen – daran wiederum misst sich nämlich die Angemessenheit der von der Politik ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen.

 

Es ist ein Versäumnis der Wissenschaft, aber auch der Politik, dass sie trotz des Wissens um die Unzulänglichkeit der Infektionsstatistiken erst in den vergangenen zwei, drei Wochen die zentrale Rolle solcher repräsentativen Studien erkannt und zu forcieren begonnen hat. Da deren belastbaren Ergebnisse aber erst mit erheblichem zeitlichen Verzug vorliegen, bedeutet das, dass die Politik bis dahin zwangsläufig noch mehr im Nebel stochern muss, als es aufgrund des oben beschriebenen natürlichen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ohnehin nicht vermeidbar wäre.

 

Und genau das ist ein Aspekt, den all jene, die jetzt die Heinsberg-Studie als vorläufig, unzureichend, von der Aussagekraft begrenzt und in Sachen PR ungeschickt kritisieren, nicht vergessen sollten. Sie sollten es im Gegenteil sogar mit Nachdruck würdigen: dass sich hier eine Forschergruppe frühzeitig aufgemacht hat, um unter einem enormen persönlichen Einsatz mehr über die Wirklichkeit der Pandemie hinter den Infektionszahlen herauszufinden. Das ist bemerkenswert. Und diejenigen Wissenschaftler, die jetzt – mit jedem Recht, aber auch auffallend flott – die Methode und die Ergebnisse skeptisch hinterfragt haben, können es ja dann mit ihren eigenen Studien besser machen. Von der Heinsberg-Studie lernen. Sie können es auch deshalb, weil Streeck, Hartmann und andere Pionierarbeit geleistet haben. Soviel Dankbarkeit muss dann doch sein.



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Kommentare: 1
  • #1

    Raphael Wimmer (Dienstag, 14 April 2020 10:37)

    Volle Zustimmung zu einem Punkt: momentan wird hier unter großem Zeitdruck live und öffentlich geforscht, ohne Netz und doppelten Boden. Da sollte man von den Wissenschaftlern nicht Übermenschliches erwarten.

    Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass selbst bei in Ruhe geplanten und durchgeführten Studien oft Fehler passieren oder zu weit gehende Schlüsse gezogen werden.
    Weil die Forschung bei COVID-19 live und öffentlich geschieht, kann und muss auch das erste Peer-Review live und öffentlich stattfinden. Da ist es natürlich problematisch, dass dieses Peer-Review nicht double-blind ist, sondern sich Autoren und Kritiker sich in einen persönlichen Konflikt vor Publikum begeben müssen.
    Das wirkt nicht nur für Außenstehende und Medien dramatischer als es ist (wie von Herrn Drosten angemerkt), sondern kann für die öffentlich kritisierten Wissenschaftler durchaus traumatisch sein und schnell in ein Lagerdenken führen.
    Dieser Gefahr müssen wir uns bewusst sein.

    Ich habe aber auch das Gefühl, dass die Kritiker der Heinsberg-Studie und des Leopoldina-Papiers gerade deshalb so harsch und öffentlich deren Probleme benennen, weil sie befürchten, dass die Politik selektiv deren (bisher nicht nachprüfbaren!) Hypothesen verwendet, um das von Wirtschaftsverbänden und anderen geforderte Wiederhochfahren des öffentlichen Lebens zu begründen.
    Ein Großteil der fachlich einschlägigen Wissenschaftler scheint nämlich einen längeren Shutdown für die deutlich bessere Lösung zu halten (siehe auch das aktuelle Helmholtz-Papier - https://www.helmholtz.de/fileadmin/user_upload/01_forschung/Helmholtz-COVID-19-Papier.pdf).

    Insofern ist es mMn durchaus legitim, Inhalte und Präsentation zu kritisieren, ohne es selbst besser machen zu können.