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Warum die Jugend nie im Zentrum der Politik steht

In Zeiten von Corona und Ukrainekrieg wird der öffentliche Spardruck enorm – und legt offen, was uns als Gesellschaft wirklich wichtig ist. Zeit, uns ehrlich zu machen. Ein Essay.

Rekruten in der Grundausbildung bei der Bundeswehr. Foto: Dirk Vorderstraße / CC BY-NC 3.0.

ALS DIE AMPEL-KOALITION ihr 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr verkündete, schwang eine unmissverständliche Botschaft mit: Die Entscheidung ist angesichts des Ukrainekrieges eine Frage der nationalen Sicherheit und der internationalen Solidarität, also alternativlos. 

 

Tatsächlich wurde die von Plötzlichkeit und Umfang her in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Erhöhung der Verteidigungsausgaben in den öffentlichen Debatten kaum in Frage gestellt. Auch weil die Bundesregierung sie mit der Versicherung garnierte, durch die Deklarierung der Milliarden als Sondervermögen könnten alles übrigen Ausgabenpläne im Prinzip weiterlaufen wie zuvor.

 

Was natürlich, unabhängig wie man zu der Notwendigkeit einer Aufrüstung steht, Unsinn ist – zumindest mittelfristig. Denn der parallel zum 100-Milliarden-Plan gefasste Beschluss, dauerhaft zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Bundeswehr zu stecken, bedeutet zweierlei: dass erstens das Sondervermögen nach maximal vier Jahren aufgebraucht sein wird. Und dass zweitens danach weiter jedes Jahr zusätzlich mindestens 24 Milliarden in die Verteidigung fließen werden, die, solange großflächige Steuererhöhungen tabu sind, anderswo im Bundeshaushalt "erwirtschaftet", sprich: eingespart werden müssen.

 

Die Zeitenwende ist
auch eine budgetäre

 

Warum ich das so ausführlich aufschreibe? Weil der budgetäre Teil der vielzitierten Zeitenwende, die da innerhalb weniger Wochen stattgefunden hat, noch gar nicht richtig eingesunken ist im Bewusstsein der meisten Leute. Eine Zeitenwende, gegen die sich bis zum Ukrainekrieg ein Großteil der Bundespolitik gestemmt hatte. Über Jahre hinweg.

 

Denn neu ist das Ziel "Zwei Prozent BIP für Verteidigung" wahrlich nicht. Der frühere US-Präsident Donald Trump schlug bei Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) regelmäßig mit derselben Forderung auf, weil er die deutschen Militärausgaben für viel zu niedrig hielt, um fair gegenüber den anderen Nato-Partnern (vor allem den USA) zu sein. Übrigens waren die zwei Prozent keine Erfindung von Trump, sondern entsprachen einer Selbstverpflichtung der Nato-Staaten, inklusive Deutschlands, von 2014.

 

Doch solange die Selbstverpflichtung in Deutschland vor allem in Form Trumpscher Vorwürfe wahrgenommen wurde, konnte man sie wegdrücken. Bestenfalls mit halbherzigen Versprechungen (Ende 2019 sagte Merkel die zwei Prozent bis "Anfang der 30er Jahre" zu), oft mit empörten Kopfschütteln. Sicherlich hat dabei eine Rolle gespielt, dass für viele selbst in der damaligen Großen Koalition so hohe Militärausgaben nicht ins 21. Jahrhundert zu passen schienen. Merkels Zurückhaltung hingegen dürfte vor allem auch damit zusammengehangen haben, dass sie wusste, welche Verwerfungen im Bundeshaushalt die schnelle Erhöhung auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung bedeuten würde. Weshalb sie sie für nicht umsetzbar hielt.

 

Die Bundesregierung
verweigert die Aussage

 

Mit dem russischen Angriff hat sich nun mit einem Mal die Grundlage geändert. Zur Veränderung dieser Grundlage würde indes gehören, die Zeitenwende auch als eine budgetäre zu benennen, anstatt letztere mit Verweisen auf das Sondervermögen kleinzureden. Es wäre an der Zeit für die Ampel-Koalition und allen voran Kanzler Olaf Scholz (SPD), transparent die Frage zu beantworten, welche Politikfelder und Bevölkerungsgruppen die Verlagerung der Haushaltsprioritäten am stärksten zu spüren bekommen werden. 

 

Bislang verweigert die Bundesregierung die diesbezügliche Aussage. Vermutlich, weil sie noch keine explizite Strategie dazu hat, denn deren Entwicklung wäre mutmaßlich mit schweren Verwerfungen verbunden, innerparteilich, aber auch zwischen SPD, Grünen und FDP. 

 

Implizit hingegen zeichnet sich schon ab, in welche Richtung die Reise gehen dürfte. Erstens: Bei der Sozialpolitik, vor allem bei der Versorgung der älteren Generation, wird eher nicht gespart werden. Dafür spricht symbolhaft, dass die Ampel zum 1. Juli die Renten um rekordverdächtige 5,35 Prozent (West) bzw. 6,12 Prozent (Ost) anheben wird.

 

Zweitens: Bei der Klimapolitik auch nicht, da der Klimawandel unabhängig von anderen Krisen weitergeht. Und weil die Klimapolitik als Herzstück des grünen Regierungsprogramms gedacht war, das umso wichtiger wird, je stärker sich das zweite grüne Herzstück, eine andere – feministischere – Außenpolitik (Annalena Baerbock) angesichts von Aufrüstung und Waffenlieferungen an die Ukraine vorerst erledigt zu haben scheint.

 

Drittens: Auch die Arbeitnehmer und die Wirtschaft sollen möglichst geschont werden. Das Ampel-Paket zum Ausgleich der enorm gestiegenen Energiekosten deutet ebenso in diese Richtung wie der massive Widerstand vor allem der FDP gegen Steuererhöhungen. Hinzu kommt: So unverständlich wie angesichts der angestrebten Klimawende widersinnig, so wahrscheinlich ist trotzdem, dass sogar die geschätzten 3,1 Milliarden für die vorübergehende Runtersubventionierung der Benzinkosten fließen werden, obwohl der Literpreis schon von selbst wieder gesunken ist und dann weniger kosten dürfte als vor der Krise.

 

Bei allen Veränderungen eine
frappierende Konsequenz

 

In der Gesamtschau wird absehbar, dass die budgetäre Zeitenwende vor allem zu Lasten der jungen Generation gehen dürfte. Was, wenn man sich die Corona-Politik der vergangenen Jahre ansieht, bei allen Veränderungen eine frappierende Konsequenz besäße. Die Weichen wurden längst in diese Richtung gestellt.

 

Beispiel Schulen. 400.000 zusätzliche Kinder und Jugendliche aus der Ukraine werden sie in den nächsten Wochen aufnehmen müssen, schätzt die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Karin Prien. Hier im Blog sprach sie neulich noch von 7.000 zusätzlichen Lehrkräften, die dafür nötig würden. Zuletzt nannte sie dann gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland die Zahl von 24.000 Lehrkräften. Woher diese überhaupt kommen sollten, ist unklar. Eindeutiger beantworten lässt sich indes die Frage nach den zusätzlichen Kosten, wenn der Unterricht angemessen verlaufen soll. Pro Schüler und Jahr gibt Deutschland laut Statistischen Bundesamt 8.200 Euro aus. Macht also rund 3,3 Milliarden Euro extra für die geflüchteten Schüler. Ziemlich genau der Betrag, den die Ampel zur Benzinpreissubvention auszugeben beabsichtigt. Für die Beschulung der ukrainischen Kinder und Jugendlichen hingegen hat der Bund den Ländern gerade einmal eine Milliarde für ganz 2022 zugesagt, und von dem Geld soll auch noch alles mögliche Andere, vor allem Gesundheits- und Pflegekosten, bezahlt werden, und zwar für alle Altersgruppen unter den Geflüchteten. 

 

Auch in den Ländern wird gespart. So kürzte etwa Berlin seinen Schulen ihre jährlichen Verfügungsfonds und damit so ziemlich das einzige bewegliche Geld, das sie haben. Von je nach Schülerzahl 15.000 bis 30.000 Euro pro Jahr auf nur noch 3.000 Euro. Was vor dem Ukraine-Krieg unerhört gewesen wäre. Jetzt, seit Beginn der Fluchtbewegungen, ist es eigentlich nur noch unglaublich. Während Brandenburg wegen der Corona-Folgekosten die Abschaffung der Kitagebühren verschiebt.

 

Beispiel Bafög. Das Bundeskabinett hat gerade eine Erhöhung der Bedarfssätze um 5,15 Prozent beschlossen. Klingt viel – und nah dran an der Rentenerhöhung. Tatsächlich gab es für die Studierenden aber seit 2015 vier Nullrunden, für die West-Rentner nur eine (für Ost-Rentner keine). Und während die Renten seit 2015 im Westen um 25,9 Prozent und im Osten um 34,6 Prozent zulegten, stieg das Bafög im selben Zeitraum um lediglich 20,4 Prozent, die für dieses Jahr geplanten Erhöhungen bereits jeweils eingerechnet. 

 

Beispiel Hochschulfinanzierung. Der Ampel-Koalitionsvertrag hatte zugesagt, den Zukunftsvertrag Studium und Lehre mit dem Pakt für Forschung und Innovation gleichzustellen. Anders formuliert: Die Hochschulen sollten von 2022 an und dann jedes Jahr automatisch drei Prozent mehr Bundesgeld erhalten, wie es die außeruniversitären Forschungseinrichtungen von Max Planck bis Helmholtz bereits seit langem tun. Doch in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) gab es zuletzt heftige Debatten um eine mögliche Verschiebung der Erhöhung, jetzt sollen erst im Juli Eckpunkte dazu vorliegen. Parallel wird in mehreren Bundesländern zwischen Hochschulen und Wissenschaftsministerien über Kürzungen gesprochen.

 

Die Antwort liegt in der Demografie
unseres Landes – und an uns allen

 

Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Aber die Richtung ist klar. Warum, sollten wir uns alle fragen, sind eigentlich ein Sondervermögen für Verteidigung möglich, Sonderfonds fürs Klima und fragwürdige Hilfspakete für Autofahrer, aber der seit vielen Jahren überfällige und von der Ampel in ihrem Koalitionsvertrag versprochene Bildungsaufbruch droht wegen Corona und der Ukraine schon ausgebremst zu werden, bevor er überhaupt so richtig begonnen hat? Die Länder sparen und der Bund legt so wenig drauf, dass der Anteil der Bildungsinvestitionen an allen Staatsausgaben perspektivisch sogar noch sinken dürfte.

 

Die Antwort auf das Warum liegt nicht in geizigen Finanz- und nicht in unfähigen Kultusministern. Die Antwort, meine ich, liegt in der Demografie unseres Landes – und an den Schlussfolgerungen, die wir alle aus ihr ziehen. Es gibt unter den rund 41 Millionen Haushalten in Deutschland gut acht Millionen, in denen Kinder und Jugendliche unter 18 leben. In 33 Millionen leben dagegen nur Erwachsene. Und zu fast 13 Millionen Haushalten gehören Menschen ab 65. Das prägt die Prioritäten unserer Gesellschaft und ihre Visionen, das prägt die Politik und ihr Handeln. Weil wir es so wollen oder zulassen. Und so wundert es dann auch kaum noch, dass die neue Chefin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Lisa Paus (Grüne), direkt nach ihrer Nominierung sagte, das "S" im Kürzel des Ministeriums werde oft zu leise ausgesprochen. "Das will ich ändern."

 

Nichts davon ist neu, nichts davon hat sich geändert durch die Zeitenwende des Ukraine-Krieges. Deutschland investierte vor der Coronakrise 3,0 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Kitas und Schulen, die OECD im Schnitt 3,4 Prozent, Norwegen gar 4,7 Prozent. Ein Riesenabstand. Doch je knapper die öffentlichen Gelder werden, desto ehrlicher sollten wir als Gesellschaft unsere politischen Prioritäten benennen. Klären, warum in Wahrheit stets das "J" für Jugend und Kinder in Deutschland eine so untergeordnete Rolle für unsere Gesellschaft spielt. Und diese Wahrheit der jungen Generation dann auch ins Gesicht sagen. 



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Kommentare: 2
  • #1

    Gerald Fasch (Dienstag, 19 April 2022 12:41)

    Gegen diese brutale Hochrechnung des Autors kann man
    (leider) nicht einwenden. Man wünscht sich einen ähnlich
    ehrlichen Blick in der Politik.

  • #2

    René Krempkow (Sonntag, 24 April 2022 11:07)

    Das Problem ist ein strukturelles, wie es in diesem Blogbeitrag auch wunderbar klar dargestellt wurde.
    Hier hilft daher m.E. nur, es durch Wahlrechtsänderungen auch strukturell anzugehen. Eigentlich müssten - mit Blick auf die Wahrung auch der Chancen zukünftiger Generationen - Eltern stellvertretend für ihre Kinder wählen, solange sie dies noch nicht selbst können. Allerdings können dies z.B. 16jährige sehr wohl schon selbst (jedenfalls mindestens in gleichem Ausmaß wie manch Hochbetagte*r). Dies zeigen Beispiele bereits umgesetzter Wahlrechtsänderungen, ohne dass der Untergang des Abendlandes stattfand.

    Immerhin hat jetzt auch die Landesregierung in Berlin vor, das Mindestalter für Wahlen zum Abgebordnetenhaus auf 16 abzusenken (nachdem dies 5 andere deutsche Bundesländer für ihre Landtagswahlen auch schon taten). Dies mag ein kleiner Schritt sein, ist aber m.E. ein wichtiger und wäre mit der von Giffey ursprünglich favorisierten Regierungskoalition mit der CDU nicht einmal denkbar gewesen.