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Die Chancen kommen später

Die Ampel-Koalition will die Rolle des Bundes in der Bildungspolitik neu definieren. Doch ihre wichtigstes bildungspolitisches Vorhaben verschiebt sich immer weiter nach hinten. Weil BMBF-Chefin Stark-Watzinger nicht weiß, wie sie es bezahlen soll?

ES IST DIE ZENTRALE bildungspolitische Initiative der Ampel-Parteien: das "Startchancen"-Programm, mit dem SPD, Grüne und FDP laut Koalitionsvertrag Kindern und Jugendlichen "bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen" wollen. Massive Investitionen in Gebäude, Unterrichtsräume und die Ausstattung von 4000 Schulen bundesweit, zusätzlich soll es für jede dieser 4000 Schulen Bundesgelder geben, damit sie nach eigener Entscheidung inner- und außerschulische Lernangebote entwickeln können. Und Stellen für Schul-Sozialarbeiter sollen alle 4000 auch noch finanziert bekommen. 

 

Schon die Ankündigung Ende 2021 markierte den ehrgeizigen Anspruch der frisch ins Amt gekommenen Bundesregierung, die Rolle des Bundes bei der Modernisierung des deutschen Schulsystems neu zu definieren. Doch in den vergangenen Wochen wurde immer klarer: Es könnte bis 2024 dauern, bevor überhaupt das erste Geld fließt. Und wieviel Geld es am Ende tatsächlich noch wird, ist völlig offen.

 

"Das Startchancen-Programm, mit dem wir schwierigen Schulen in schwierigem Umfeld helfen wollen, steht vor der Verhandlungsreife", versicherte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) während der Bundestags-Haushaltsdebatte am Donnerstagabend. Für sie nur einer von mehreren Belegen, dass Chancenaufstieg und Bildungsgerechtigkeit "bei uns in dieser Koalition in guten Händen" seien.

 

Doch steigt der Druck auf das BMBF, endlich konkreter zu werden. Und der Druck kommt auch aus der eigenen Koalition. Bis Ende September, so hatte es der Haushaltsausschuss des Bundestages schon im Mai per Maßgabebeschluss und auch mit den Stimmen der Ampel-Parteien festgelegt, muss das Ministerium von Bettina Stark-Watzinger "mögliche Konzepte vorzulegen, wie das Startchancen-Programm inhaltlich ausgestaltet, finanziert, administriert und konzipiert werden soll". Außerdem verlangten die Haushaltspolitiker von der Bundesregierung, dass es 2023 losgehen soll.

 

Reißt das BMBF die Vorgabe
aus dem Haushaltsausschuss?

 

Die Konzeptforderung, so war aus dem BMBF immer wieder zu hören, werde man fristgerecht erfüllen – allerdings vorbehaltlich dessen, was die Verhandlungen mit den Ländern anschließend ergeben. Gerissen würde indes, bliebe es bei der gegenwärtigen Zeitplanung, die Vorgabe der Haushaltspolitiker, die "Startchancen" schon nächstes Jahr starten zu lassen. Inzwischen ist sogar vom Schuljahr 2024/25 die Rede.

 

Dabei versuchte das BMBF zuletzt, den Ländern dafür den Schwarzen Peter zuzuschieben: Von denen hänge es ab, wie schnell es gehe. Etwa bei der noch ausstehenden Einigung auf Verhandlungseckpunkte, die jetzt möglichst nur noch bis Ende des Jahres erreicht werden soll. Anders als ursprünglich erwartet also nicht mehr gleichzeitig mit der Konzeptlieferung ans Parlament, sondern erst danach.

 

Verwirrend ist, dass das Ministerium in den vergangenen Wochen einerseits auf die Länder zeigte, andererseits aber selbst immer wieder betont: Bei einem Programm, das die bildungspolitische Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern so grundsätzlich anders gestalte, müsse man sich die nötige Zeit nehmen, um es vernünftig zu machen. 

 

Lehren aus der 

Vergangenheit

 

Nicht nur die geplante Laufzeit – zehn Jahre – sei einzigartig. Vor allem wolle man die Länder nämlich zu einem neuartigen Monitoring-System verpflichten: zum Sammeln und Liefern hochwertiger Daten zur Umsetzung und zur Wirkung des Programms, um transparent evaluieren zu können, was funktioniert hat und was nicht. Das Auf- und Umsetzen dieser wissenschaftlichen Begleitung dauere, erst danach könnten die Förderrichtlinien veröffentlicht und die Auswahlprozesse in den Bundesländern gestartet werden.

 

Eine Reaktion vermutlich auf die jahrelange Kritik des Bundesrechnungshofs an milliardenschweren Bund-Länder-Programmen wie dem Digitalpakt, die im Kern auf die immer gleichen Essentials hinauslief: Das Bundesbildungsministerium habe zu wenig Steuerungs- und Kontrollrechte, um sicherzustellen, dass die Länder das Geld vernünftig ausgeben. Es seien zu viele Entscheidungsinstanzen beteiligt, außerdem würden die Mittel per Gießkanne auf die Länder verteilt, nicht nach Bedarf.

 

Ähnlich schlecht kam bei Bildungsforschern das Programm "Aufholen nach Corona" weg. Gerade erst wieder konstatierten Wissenschaftler des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), die Corona-Bildungshilfen hätten "förderbedürftige Schülerinnen und Schüler kaum erreicht". Zudem werde vermutlich offen bleiben, was das Programm überhaupt gebracht habe, denn eine systematische Datenerhebung habe es nicht gegeben. Und soweit überhaupt Lernstandserhebungen stattfanden, seien diese dezentral und oft nicht standardisiert gewesen und nicht systematisch zusammengeführt worden. 

 

Die drei Säulen, auf denen
die "Startchancen" ruhen sollen

 

All das, so die Ansage des Bundes an die Länder, soll beim "Startchancen-"Programm anders laufen. Aus Sicht des Bundes wird das Programm vorrangig auf drei Säulen ruhen. Die erste: ein Investitionsprogramm für den Infrastrukturausbau für laut Ampel-Koalitionsvertrag "moderne, klimagerechte, barrierefreie Schulen mit einer zeitgemäßen Umgebung und Kreativlaboren". Diese Säule soll nach den Plänen des BMBF über ein Sondervermögen im Bundeshaushalt finanziert werden – denn das normale Ministeriumsbudget würde dafür nicht reichen.

 

Zweitens: die freien Finanzmittel. Der Koalitionsvertrag spricht von einem "Chancen-Budget", das die 4000 Schulen jeweils zur freien Verfügung bekommen sollen, "um Schule, Unterricht und Lernangebote weiterzuentwickeln und außerschulische Kooperationen zu fördern". Säule zwei soll vermutlich über Umsatzsteuerpunkte an die Länder fließen, die sich im Gegenzug per Vertrag zur Eins-zu-Eins-Weitergabe an die Schulen verpflichten. Und drittens: die Schulsozialarbeit mit zusätzlichen Stellen an den 4000 Schulen. Auf Dauer angelegte Stellen im Übrigen, finanziert über den Haushalt des Bundesfamilienministeriums. 

 

Schaut man sich über die Zeit bekannt gewordenen Konzeptüberlegungen aus dem BMBF an, fällt neben dem späten Startpunkt zweierlei auf: Sehr weit scheinen sie zum einen noch nicht gediehen zu sein, denn im Wesentlichen bilden sie die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag ab. Zum anderen fehlt bislang jede Aussage aus dem Ministerium von Bettina Stark-Watzinger, wieviel Geld pro Jahr bereitstehen wird. 

 

Klar ist: Damit das Programm auch nur halbwegs seinem hochgegriffenen Anspruch genügt und die Ampel sich nicht blamiert, muss es mindestens eine Milliarde Euro sein. Jedes Jahr. Als absolute Unterkante. Die Rechnung ist einfach: Allein 4000 Sozialarbeiter-Stellen kosten rund 250 Millionen pro Jahr, und dann hätte jede Schule wirklich nur eine einzige zusätzliche Stelle. Würde jede Schule außerdem das versprochene Chancenbudget erhalten, wären das schon bei nur 25.000 Euro pro Jahr und Schule (was knauserig wäre) weitere 100 Millionen. Und dann der größte Brocken: Rechnet man pro Schule 1,6 Millionen Euro verteilt auf zehn Jahre für die versprochenen neuen Lernumgebungen (was mit 160.000 Euro pro Jahr selbst ohne die Baukosten-Explosion fast schon lächerlich wenig wäre), ist die Milliarde pro Jahr insgesamt bereits voll. 

 

Wieviel Geld kann Bettina
Stark-Watzinger noch loseisen?

 

In den Koalitionsverhandlungen war freilich intern noch ganz anders gerechnet worden: 1,25 Milliarden pro Jahr im Endausbau allein für das Investitionsprogramm, 430 Millionen für das "Chancenbudget" und weitere 430 Millionen für die Schulsozialarbeiter. Alles in allem rund 2,1 Milliarden pro Jahr. Voll wirksam übrigens schon ab 2023. Nur hatte die Ampel Zahlenspiele wie diese wohlweislich nie öffentlich gemacht.

 

Keine Frage: Die politische Großwetterlage hat sich verändert seit Dezember 2021. Dennoch stößt es auch in der Ampel vielen sauer auf, dass das BMBF nicht nur die 2023er Ambitionen vollends begraben zu haben scheint, sondern auch die Antwort nach dem Finanzvolumen immer noch schuldig bleibt. Man wolle mit den Ländern erst über das Konzept und dann über das Geld sprechen, lautet dazu das Standardargument aus dem Ministerium.

 

Wobei der tatsächliche Grund ein anderer sein dürfte: Bettina Stark-Watzinger weiß selbst nicht, wieviel Geld sie bei ihrem FDP-Kollegen Christian Lindner noch loseisen kann. Und wird sich deshalb bis auf Weiteres nicht mit der Nennung eines konkreten Betrags aus dem Fenster hängen, an dessen Erreichung sie dann gemessen wird. Wahr ist allerdings auch: Am Ende wird die Ministerin vor allem daran gemessen werden, ob das vorhandene Geld auch nur halbwegs die Ernsthaftigkeit des Unterfangens widerspiegelt. Und zu dieser Ernsthaftigkeit gehört für die Ministerin, sich sehr bald haushaltspolitisch zu exponieren.

 

Neben der Frage nach dem Geld, nach neuen Datenerhebungs- und Berichtspflichten sowie nach einer Kofinanzierung durch die Länder gibt es in den Verhandlungen vor allem einen Knackpunkt: Wie kommt das Geld an die richtigen Schüler und Schulen?

 

Die Absurditäten des
Königsteiner Schlüssels

 

Bildungspolitiker und Bildungsforscher haben wiederholt kritisiert, dass der sogenannte Königsteiner Schlüssel das Ziel des Programms ad absurdum führen würde. Würde er doch bedeuten, dass in etwa genauso viele Schulen pro 100.000 Einwohner in ärmeren wie in reichen Bundesländern gefördert würden – unabhängig vom Anteil sozial benachteiligter Schüler. Was schon beim Laptop-Ergänzungsprogramm im Digitalpakt etwa dem Freistaat Bayern rund viermal so viel Euro pro in Bedarfsgemeinschaft lebendem Kind beschert hatte wie dem Bundesland Bremen. Doch warum sollten dann Länder wie Bayern oder Baden-Württemberg zustimmen, von dem über viele Jahre genutzten Verteilungsmodus abzuweichen?

 

Eine Alternative wäre die Nutzung sogenannter Sozialindizes, die beschreiben können, welche Schulen von besonders vielen sozial benachteiligten Schülern besucht werden. Nur: Gerade mal gut die Hälfte der Bundesländer nutzt bislang solche Inzidezes, die sich noch dazu stark voneinander unterscheiden. Sollte dann nicht erst recht eine Vorgabe des Bundes sein, dass sich alle Länder als Teilnahme-Voraussetzung für das "Startchancen-"Programm auf einen solchen Index verständigen?

 

Sollte, könnte – wobei in dem Fall immer noch nicht klar wäre, ob das Bundesgeld auch auf die Länder selbst ungleich nach dem Sozialindex verteilt würde (was, siehe oben, wirklich einer bildungspolitische Innovation gleichkäme). Oder ob die Länder das nach Index zu verteilende Geld ihrerseits doch wieder per Gießkanne (=Königsteiner Schüssel) erhielten.

 

Der parlamentarische Staatssekretär im BMBF, Jens Brandenburg (FDP), ließ im Interview bereits durchscheinen, dass sein Ministerium sich dem Druck vor allem der Südländer beugen könnte. "Für den Erfolg des Programms ist am Ende nicht die entscheidendste Frage, ob wir den Königsteiner Schlüssel anwenden", sagte er. "Solange die Länder intern über einen Sozialindex diejenigen Schulen auswählen, an denen die meisten sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen lernen – und diese dann fördern."

 

Derweil wiederholen die Länder ihre Forderung, wenn schon das "Startchancen"-Programm so spät starte, dafür zumindest das Corona-Aufholprogramm über Ende 2022 hinaus zu verlängern – trotz der massiven Kritik von Wissenschaftlern an seiner Umsetzung. Während den Kultusministern diesbezüglich noch im Frühsommer Ablehnung aus dem BMBF entgegenschlug, wurden die Signale zuletzt versöhnlicher: Darüber könne man reden – allerdings nur, wenn das Programm nachgesteuert und gezielter würde. Ein Versuch Stark-Watzingers, beim Ärger über die "Startchancen"-Verzögerungen den Druck aus dem Kessel zu nehmen. Zumindest in den Ländern. 

 

Doch auch in der Koalition werden viele langsam ungeduldig. Die SPD-Haushaltspolitikerin Wiebke Esdar erinnerte am Donnerstagabend in der Bundestags-Haushaltsdebatte an den "Startchancen"-Maßgabebeschluss des Haushaltsausschusses. Und kritisierte, das sich "bisher nichts" zu dem Programm im BMBF-Haushaltsentwurf für 2023 finde. Darüber "und über ganz viele andere" Haushaltstitel werde man in den nächsten Wochen mit dem Ministerium sprechen. "Ich freue mich darauf", fügte Esdar hinzu. Trotzdem klang es wie eine Drohung. 



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Kommentare: 1
  • #1

    GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 05:09)

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